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» Wir spüren diesen Frust «

Dank Digital-Gesetz steht der Kompass bei der Interoperabilität einmal mehr auf Wandel. Zwar hätten sich die unter Jens Spahn geschaffenen Strukturen bewährt, sagt Stefan Höcherl von der gematik. Es hapert aber weiterhin an der Umsetzung, wie insbesondere das Beispiel ISiK zeigt, das der KHZG-Softwarewelle hinterherhinkt.

Stefan Höcherl ist seit April 2020 bei der gematik und dort zuständig für den Bereich Strategie und Standards. Er leitet die bei der gematik angesiedelte Koordinierungsstelle Interoperabilität und verantwortet aktuell deren Transformation in ein neues Kompetenzzentrum Interoperabilität im Gesundheitswesen (KIG). Foto: © gematik

Wir haben vor einem Jahr über die damals neue Roadmap Interoperabilität gesprochen, den ersten Interoperabilitätsfahrplan, den es im deutschen Gesundheitswesen je gab. Wie weit sind wir mittlerweile gekommen? Wie pünktlich fahren die Züge?
Wir sind sehr zufrieden mit den ersten Themen, die wir im Zusammenspiel zwischen Koordinierungsstelle, Inter-
op Council und Expertinnen und Experten abgearbeitet haben. Beim Medikationsprozess haben wir zum ersten Mal ein großes Standardisierungsthema sektorenverbindend und interdisziplinär erarbeitet. Die Ergebnisse konnten wir dann gleich in die fachliche Konzeptionsarbeit der neuen elektronischen Patientenakte, der ePA für alle, einfließen lassen. Das war ein extrem schönes Erlebnis für uns: zu sehen, wie das, was wir da in großen Runden mit vielen Beteiligten abgestimmt haben, in eine Anwendungsspezifikation einfließt. Insgesamt konnten wir bisher elf Arbeitskreise abschließen, das ist schon eine ganze Menge. Neben dem Medikationsprozess haben wir zum Beispiel das Thema „verbindliche Regeln zur Nutzung eines Referenzvalidators“ abgeschlossen. Und wir haben zum allerersten Mal überhaupt aus der Interoperabilitätssicht das Thema Pflege mit einer „Pflege-Journey“ vermessen. Damit bekommen wir einen ersten Überblick über Interoperabilitätsanforderungen in diesem wichtigen Bereich.

Worum ging es in dem Referenzvalidator-Arbeitskreis konkret?

Es geht bei dem Referenzvalidator darum, dass seitens der Hersteller zum Entwicklungszeitpunkt die syntaktisch korrekte Umsetzung einer Spezifikation überprüft wird. Dafür soll für jede FHIR-Spezifikation ein Prüfmodul, d. h. ein Softwareprodukt, veröffentlicht werden. Das reduziert am Ende die Entwicklungs- und Implementierungsaufwände bei den Anwendern deutlich.


Wir haben einen sehr engen Austausch mit CIOs der Unikliniken gehabt, die genau diesen hohen Implementierungsaufwand in der sehr heterogenen Klinik-IT-Landschaft beklagen. Wir haben auch gesehen, dass es hier neben der Validierung durch ebensolche Referenzvalidatoren auch einen Bedarf an Referenzarchitekturen gibt, da auch die Definition und Nutzung standardisierter Komponenten zu einer Verringerung des Aufwands führen kann. Referenzarchitekturen beschreiben das Zusammenwirken von IT-Systemen, Anwendungen und Infrastruktur. In den Niederlanden gibt es hierfür schon einen sehr guten Ansatz, da sind wir in engem Austausch. Mit diesen Potenzialen einer Referenzarchitektur hat sich der Arbeitskreis intensiv beschäftigt.

Was sind aktuell die großen Baustellen? Wo stecken Sie die meiste Arbeit rein?

Wir aktualisieren zum einen unsere Roadmap und gehen in die weitere Vertiefung. Das zweite große Thema sind Weichenstellungen für die neuen Prozesse und Aufgaben, die jetzt mit dem Digital-Gesetz auf uns als Koordinierungsstelle und zukünftigen Kompetenzzentrum zukommen. Da entstehen für uns neue Handlungsfelder, die abgesteckt werden müssen. Das dritte ist die Vertiefung der Zusammenarbeit mit den Akteuren, die an der ePA für alle beteiligt sind. Hier sind über die Medikation hinaus weitere Anwendungsfelder vorzubereiten und zu diskutieren. Da sind wir insbesondere mit der mio42 in sehr engem Austausch.

Sie leiten die Koordinierungsstelle Interoperabilität bei der gematik, eine Arbeit, die Sie in unserem letzten Gespräch als Moderation vieler Runder Tische beschrieben haben. Expertise kommt vom Interop Council, und das ganze lebt von ehrenamtlicher Mitarbeit der Expertinnen und Experten. Wie groß ist die Bereitschaft, mitzuarbeiten? Woher kommt der meiste Input?
Wir sind sehr erfreut über die anhaltend hohe Motivation und die wachsende Beteiligung. Wir haben innerhalb eines Jahres die Zahl der Expertinnen und Experten im Pool um 45 Prozent gesteigert, aktuell sind wir bei knapp 260 Teilnehmenden aus sieben Domänen. Das ist schon sehr gut, vor allem konnten wir bei einigen bisher schwächer ausgeprägten Domänen noch mal zulegen. Das betrifft zum Beispiel die Fachgesellschaften, die immer stärker präsent sind, vor allem bei großen Volkskrankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebserkrankungen. Aber auch aus dem zahnärztlichen Bereich haben wir engagierte Mitarbeit. Dadurch bekommen wir einen Blick auf die medizinische Versorgung und verstehen besser, wo Daten nicht so fließen, wie sie gebraucht werden. Die größte Gruppe sind nach wie vor die Praktiker der IT-Systeme in den medizinischen Einrichtungen, gefolgt von wissenschaftlichen Einrichtungen und Universitätskliniken. Auch die Industrieseite ist in unseren Arbeitskreisen vertreten.

Koordinierungsstelle und Interop Council gehen noch auf Jens Spahn zurück. Mit dem Digital-Gesetz wird jetzt strukturell noch mal Hand angelegt, Stichwort Kompetenzzentrum Interoperabilität im Gesundheitswesen oder „KIG“. Kurzer Überblick: Was sind die Änderungen, die jetzt anstehen?

Vorweg: Die anstehenden Neuerungen basieren auf profunden Erfahrungen, die wir in den vergangenen zwei Jahren mit der Koordinierungsstelle sammeln konnten. Wir wurden extern evaluiert im letzten Jahr, das ist in die Neuregelungen mit eingeflossen. Wichtige Potenzialfelder bei dieser Evaluation waren Verbindlichkeit und die Implementierung von Standards. Es ist ja niemandem geholfen, wenn wir nur Standards definieren, die dann aber nicht oder nur sehr langsam in der Versorgung ankommen. Das Digital-Gesetz nennt drei Punkte, die jetzt adressiert werden sollen: Wir bekommen als künftiges Kompetenzzentrum die Möglichkeit, selbst in die Spezifikationsarbeit zu gehen oder andere zu beauftragen. Die reine Moderatorenrolle der bisherigen Koordinierungsstelle wird weiterentwickelt und das Kompetenzzentrum handelt deutlich mehr gestaltend und orchestriert die Interoperabilitätsaktivitäten im Gesundheitswesen. Die zweite Neuerung betrifft die Qualität von Standards: Dafür können wir künftig verbindliche Qualitätskriterien festsetzen, die wir dann auch überprüfen werden. Über den gesamten Prozess hinweg werden wir Sorge dafür tragen, dass die Qualität von Spezifikationen hoch und eine gute Nutzbarkeit in der Praxis gewährleistet ist. Hinsichtlich der dritten Neuerung lautet das Stichwort Konformitätsbewertung: Wir sorgen nicht mehr nur dafür, dass der Standard in sich stringent und international bzw. intersektoral anschlussfähig ist, sondern wir überprüfen auch die Implementierung in den IT-Systemen. Insgesamt geht es bei den Neuerungen wesentlich darum, die Verbindlichkeit dessen, was wir erarbeiten und die Umsetzung in den IT-Systemen im Gesundheitswesen, d. h. in der Versorgung der Patientinnen und Patienten, zu erhöhen – und auch darum, etwas mehr Dynamik zu erzeugen.

Ein Thema, das vielen stark unter den Nägeln brennt, ist das Thema ISiK. Dabei geht es um offene Schnittstellen zwischen KIS und Subsystemen, indirekt auch um das „Geschäftsmodell Schnittstelle“. Die drei Stufen des ISiK Basismoduls wurden im Juli 2021, 2022 und 2023 veröffentlicht. Stufe 1 ist seit August 2023 verpflichtend, Stufe 2 wird es demnächst. Ist ISiK aus Ihrer Sicht eine Erfolgsgeschichte?
Da müssen wir differenzieren. Das Vorgehen und die kollaborative Erarbeitung der ISiK-Stufen sind für uns
eine volle Erfolgsgeschichte: Wir haben es geschafft, intersektoral und mit der Community voranzugehen und uns dabei sehr konsequent an FHIR zu orientieren. Das ist ein ganz wesentlicher Fortschritt gewesen im deutschen Gesundheitswesen. Trotzdem können wir natürlich nicht zufrieden sein. Woran hakt es? Es wurde noch zu wenig auf konkrete Business- und Use Cases in der Anwendung geschaut, und es gibt ein gewisses Dilemma der Gleichzeitigkeit hinsichtlich der Ressourcen. Krankenhäuser sitzen an der Umsetzung der KHZG-Projekte und haben hier einen erheblichen Druck. Gleichzeitig haben wir ein ISiK-Modul, bei dem manchmal für die Beteiligten nicht ganz klar ist, wie das in der Praxis konkret hilft. Wir brauchen Hebel, die ISiK-Implementierung besser zu begleiten, ganz konkret z. B. durch Referenzimplementierungen. Wir brauchen mehr Orientierung im Markt, das ist für uns eine der Lektionen, die wir gelernt haben. Der grundsätzliche Bedarf ist aber weiterhin sehr hoch und der Weg der richtige.

Orientierung ist ja nicht das Einzige. Wenn ich mit Krankenhaus-CIOs rede, dann geht es oft auch ganz banal um das Thema Verfügbarkeit. Viele würden gern ein Patientenportal anbinden, hätten dazu gerne eine ISiK-Schnittstelle, aber sie bekommen sie schlicht nicht. Das führt am Ende dazu, dass sie entweder doch wieder viel Geld in die Hand nehmen müssen oder auf das Portal des KIS-Herstellers ausweichen müssen, auch wenn das vielleicht qualitativ schlechter ist. Das ist im Markt ein Riesenthema. Bekommen Sie das bei der gematik mit?
Auch wir sprechen viel mit CIOs, und wir kriegen diese Rückmeldungen auch. Wir spüren diesen Frust. Natürlich würden die stationären Versorger im Rahmen von KHZG-Projekten profitieren, wenn sie ISiK nutzen könnten. Was wir sehen, ist, dass es bei den KIS-Herstellern zum Teil nicht implementiert wird. Wenn es implementiert wird, wird es teilweise nicht angeboten. Und wenn es angeboten wird, ist es teilweise noch sehr unausgereift für den jeweiligen Versorgungs-Use-Case, was dann auf CIO-Seite erheblichen Aufwand bedeutet. Deswegen glauben wir, dass es an Transparenz fehlt, es fehlt an Orientierung, und an diesen grundsätzlichen Herausforderungen will das Digital-Gesetz ansetzen.

Lassen Sie uns an dem Beispiel konkret werden: Wie können Konformitätsbewertung, Qualitätssiegel und Co. hier künftig Abhilfe schaffen?
Die Idee hinter der Konformitätsbewertung ist, dass es bei einem neu definierten Standard einen Umsetzungszeitraum gibt, innerhalb dessen mit einem Zertifikat verbindlich nachgewiesen werden muss, dass das betreffende Produkt bestimmte Qualitätskriterien hinsichtlich der verwendeten Standards auch wirklich erfüllt und die Spezifikation damit auch entsprechend umgesetzt worden ist. Das kann bis hinunter auf die Ebene einzelner Use Cases gehen. Dieses Zertifikat wird dann die notwendige Grundlage sein für eine Erstattung im GKV-System. Bereits heute können nur solche Systeme für die Abrechnung genutzt werden, die gesetzliche Anforderungen erfüllen – das Zertifikat bietet hierbei eine zusätzliche Überprüfung dieser Anforderungen.


Das ist ein ziemlich kräftiger Hebel, zumal natürlich Anbieter, die die entsprechenden Zertifikate haben, das auch in den Markt kommunizieren werden. Wir werden als gematik zu dieser Sichtbarkeit beitragen, indem wir zentral auf unserer Wissensplattform darüber informieren, welche Systeme entsprechend zertifiziert sind. Zusätzlich schafft das Digital-Gesetz einen neuen Verbindlichkeitsmechanismus, der es Anbietern ermöglicht, gegen solche Anbieter vorzugehen, die Systeme auf dem Markt halten oder in den Markt bringen möchten, die nicht den verbindlichen Anforderungen entsprechen. Ich denke schon, dass dieses Gesamtpaket in den nächsten Jahren eine positive Wirkung erzielen wird.

Wird das denn für die ISiK-Stufen schon relevant?
Wir haben aktuell das ISiK-Thema in einem breit gefassten Arbeitskreis analysiert, um zu verstehen, was gut und was nicht so gut läuft und wo eventuell Hebel sind, die wir auch kurzfristig bedienen können. Bei der Konformitätsbewertung haben wir die Verpflichtung, ab 2025 die volle Funktionsfähigkeit zu haben. Wir bauen das jetzt auf und werden schon in diesem Jahr Beteiligungsmöglichkeiten schaffen. Richtig Fahrt aufnehmen wird das wie im Digital-Gesetz vorgesehen erst 2025.

Kommen wir noch mal kurz zu den Interoperabilitätsarbeiten im Zusammenhang mit der neuen elektronischen Patientenakte. Hier war es bisher so, dass die Zuständigkeiten für Standards zum einen bei der gematik, zum anderen bei der mio42 und damit der KBV und auch noch bei einigen anderen Akteuren lagen. Gibt es da in Zeiten des KIG ein gewisses Streamlinen?

Das Kompetenzzentrum wird diese Aktivitäten zukünftig steuern, sodass Streamlinen hier durchaus der richtige Begriff ist. Was die MIOs angeht, wird aus der bisherigen Pflicht, ein Benehmen herzustellen, die Pflicht, ein Einvernehmen herzustellen. Das wird zu einer noch mal deutlich engeren Zusammenarbeit bei der Definition der MIOs führen. Ich bin überzeugt, dass wir gerade dabei sind, mit der mio42 in eine so enge Zusammenarbeit zu kommen wie vorher noch nie. Da wird die ePA für alle stark von profitieren, das wird künftig alles wesentlich besser ineinandergreifen. Das Interoperabilitätsprogramm bei der ePA ist sportlich, aber die neuen Strukturen werden uns helfen, hier gut voranzukommen.

Was sind die großen Interoperabilitätsbaustellen bei der ePA für alle?
Hauptaufgabe der gematik ist auch hier der parallele Aufbau der Konformitätsbewertung. Das gehen wir bereits an. Im Verlauf des Jahres werden wir das Konformitätsbewertungsverfahren allen Anbietern von IT-Systemen im
Gesundheitswesen anbieten, sodass wir sicherstellen können, dass auch die Praxisverwaltungssysteme oder Krankenhausinformationssysteme hinsichtlich der Grundfunktionalitäten der ePA für alle einschließlich der elektronischen Medikationsliste (eML) interoperabel sind und diese bedienen können.

Die Primärsystemhersteller können ja erst anfangen, zu arbeiten, wenn die Aktensysteme so weit sind. Was ist denn dafür ein realistischer Zeitpunkt?

Wir werden die Konformitätsbewertung so anbieten, dass ab 15. Januar 2025 sichtbar ist, welche Primärsysteme die ePA für alle einschließlich der eML konform bedienen können. Im Sommer 2025 wird es dann mit der ePA 3.1 weitere Schritte in Richtung Medikationsplan und AMTS geben. Das dürfte für weitere Dynamik sorgen. Ich glaube, dass Richtung Sommer/Herbst 2025 die große ePA-Welle in der Versorgung ankommt.

Was wäre für die nächsten zwölf Monate Ihr Wunschzettel an die relevanten Akteure, also Politik, Leistungserbringerverbände und Hersteller?
Wir müssen gemeinsam an dem Strang für die ePA für alle ziehen, und wenn diese ePA dann da ist, werden wir aus vielen theoretischen Diskussionen rauskommen. Wir müssen in den unvermeidlichen Diskussionen der nächsten Monate konstruktiv bleiben, das würde ich mir auch noch wünschen. Die digitale Medizin verlässt in Deutschland gerade die Nische und erreicht den Versorgungsalltag. Dafür ist dieses Zusammenspiel aus einer ePA als Basis des Medikationsmanagements und Konformitätsbewertung für die Primärsysteme ein ganz wichtiger Schritt. Ich glaube, dass wir daraus einiges an Freude und Zuversicht ziehen können, und ein wenig Freude und
Zuversicht täte uns in Deutschland bei der Implementierung digitaler Prozesse im Gesundheitswesen auch gut.


Das Interview führte Philipp Grätzel von Grätz, Chefredakteur E-HEALTH-COM.